Dienstag, 13. Dezember 2011

Winterreise - Mit Goethe auf den Brocken



Wir haben den Rucksack gepackt und die Wanderschuhe in den Kofferraum gestellt.
Beim Forsthaus Oderbrück lassen wir den Wagen stehen. Wir wollen den Brocken besteigen.
Der November des Jahres 1777 war fast vorüber, als sich Johann Wolfgang von Goethe entschloss, in den Harz zu reisen. »Ich mache mich allein auf, ... den letzten November, zu Pferde, mit einem Mantelsack und ritt durch Schloßen, Frost und Koth auf Nordhausen den Harz hinein in die Baumannshöhle, über Wernigerode, Goslar auf den hohen Harz.«
Ohne lange zu überlegen hatte Goethe eine Weimarer Jagdgesellschaft verlassen, um Einsamkeit zu finden. Damals bereits war er eine der bekanntesten Persönlichkeiten nicht nur in Deutschland. Die »Leiden des jungen Werther«, 1774 erschienen, galten als zutreffende Beschreibung des Lebensgefühls einer jungen, suchenden Generation.
Unter falschem Namen zog er über die Pässe des Mittelgebirges. Niemand sollte von seinem Vorhaben erfahren – nur Charlotte von Stein, die Frau, die er liebte. Goethe nächtigte in dunklen Wirtshausern. Er beobachtete mit dem Interesse des Schriftstellers die einfachen Menschen des Harzes. Er studierte die Erscheinungen der Erde, kroch in Höhlen und lernte manches über Mineralogie. Am 6. Dezember schrieb der 28-jährige Harz-Wanderer an die geliebte Freundin: »Mir ists eine sonderbaare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heise Weber, bin ein Maler, habe iura studiert, oder ein Reisender überhaupt, betrage mich sehr höflich gegen iedermann, und bin überall wohl aufgenommen ... Eine reine Ruh und Sicherheit umgiebt rnich, bisher ist mir noch alles zu Glück geschlagen, die Luft hellt sich aus, es wird diese Nacht sehr frieren.«

Berge im Nebel

Anfänglich hatte es mehrere Tage lang gestürmt, gehagelt und geregnet. Das Wetter sei
entsetzlich, niemand sonst sei unterwegs, schrieb Goethe. Doch in der Nacht zum 7. Dezember sank die Temperatur plötzlich – Schnee fiel. Goethe, der sich als Johann Wilhelm Weber, Maler aus Darmstadt, ausgab, ritt in den Hochharz, über Clausthal nach Torfhaus. »Wie ich zum Torfbause kam, sas der Förster bey seinem Morgenschluck in Hemdsermeln, und diskursive redete ich vom Brocken und er versicherte mir die Unmöglichkeit hinauf zu gehn, und wie oft er sommers droben gewesen ware und wie leichtfertig es ware iezt es zu versuchen. – Die Berge waren im Nebel man sah nichts, und so sagte er ists auch iezt oben, nicht drei Schritte vorwärts können Sie sehn. Und wer nicht alle Tritte weis ppp. Da sas ich mit schwerem Herzen, mit halben Gedanken wie ich zurückkehren wollte ... Ich war still und bat die Götter das Herz dieses Menschen zu wenden und das Wetter, und es war still.«

Erbsensuppe im Brockenbahnhof

Seit zwei Tagen hat es immer wieder geschneit. Der ganze weiße Harz scheint der Wirklichkeit entrückt, die hässlichen Spuren des alltäglichen Lebens sind zugedeckt, dem Auge behutsam entzogen. Über 230 Jahre nach Goethe gehört der Brocken zu den beliebtesten Wanderzielen in Deutschland.
Seit am 3. Dezember 1989 die Grenze gefallen ist, kommen Zehntausende jedes Jahr.
Die Welt ist weiß. Nur wenige Meter weit können wir durch das Gestöber blicken. Uns wird leicht zumute, wir erfahren eine neue Dimension. Nie wieder soll sie aufhören, die weiße Unendlichkeit.
Von Schierke aus führt ein Ableger der Harzquerbahn auf den Brocken, direkt auf den Gipfel. Heute muss derjenige, der den Schnee, die Wolken oder den Ausblick erleben will, nicht mehr laufen. Die Schmalspurbahn wurde Ende des 19. Jahrhunderts von italienischen und kroatischen Arbeitern in den Berg gehauen. Seit dem Sommer 1992 befördern die Züge Menschenmassen nach oben, direkt auf den Gipfel. Eine Dampf- und eine Diesellok ziehen die Waggons. Umweltschützer hatten gegen die Wiederaufnahme des Betriebs, der seit 1961 eingestellt war, protestiert. Sie vertraten die Ansicht, dass sich Naturschutz und Massentourismus nicht miteinander vertragen.
Wer auf die Bahnfahrt verzichtet, der gelangt über den neuen Goetheweg nach oben.
Nach der Öffnung der Grenze wurde der Weg eigens angelegt, damit die Leute nicht den
alten Pfad durch das Naturschutzgebiet nehmen. In den Jahren nach 1990 konnte man hier noch die alten Grenzanlagen betrachten – eine eigene Betonmauer umzog den Gipfel. Fluchtversuche waren damals, zu DDR-Zeiten, beinahe zwecklos, der Zaun war tief in den Boden gegraben und an seiner Oberkante mit elektrischen Drähten unüberwindbar gesichert. Nur die Vögel des Hochharzes waren frei.
Unsere Haare beginnen zu verkrusten. Schnee taut auf der Haut und friert zu Eis. Unsere Ohren schmerzen, durch die Handschuhe kriecht die Kälte. Den Wanderer, der das Ziel erreicht hat, erwartet ein bulliges Bahnhofsgebäude. BROCKEN steht in roten Versalien auf dem Mauerwerk. Es ist ein massives Haus, ein Bollwerk gegen Sturm und Kälte, in dessen Inneren der Brockenwirt Erbsensuppe und manch hochprozentiges Getränk anbietet.
Hier oben wollen wir bleiben. Langsam taut der Schnee von unseren Jacken. Nie wieder, so denken wir nach einer ersten Besinnung, nie wieder wollen wir hinaus in Kälte und Wind.
Johann Wolfgang von Goethe hat am 10. Dezember 1777 den Brocken bestiegen. Es war ihm gelungen, den zögernden Förster zu überreden, ihn bei seiner Wanderung
zu begleiten. Damals galt der Weg auf den Gipfel als waghalsige Strecke. Vertraut man der Oberlieferung, hat Goethe als erster überhaupt den Brocken im Winter bezwungen, als erster den Gang durch Nebel und Schnee gewagt. »Ich habs nicht geglaubt biss auf der obersten Klippe. Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit.« Rückblickend schrieb er später: »Ich stand wirklich ... in der Mittagsstunde, grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens, zwischen jenen ahnungsvollen Granitklippen, über mir den vollkommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewaltsam brannte, so dass in der Wolle des Überrocks der bekannte branstige Geruch erregt ward.«

Fast religiöses Gefühl

»Unter mir sah ich ein bewegliches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken und nur durch höhere und tiefere Lage der Wolkenschichten die darunter befindlichen Berge und Täler andeuten." Fast war es ein religiöses Gefühl, das Goethe auf dem Gipfel überkam. Er dachte an Charlotte von Stein und er dachte an seine eigene Existenz im fernen Weimar.
»(Ich) sah die Gegend von Teutschland unter mir alles von Wolken bedeckt, dass der
Förster, den ich mit Mühe persuadirt hatte, mich zu führen, selbst vor Verwunderung außer sich kam, sich da zu sehen, da er viel Jahre am Fuße wohnend das immer unmöglich geglaubt hatte.«
Der Abstieg geht schnell. Wir rutschen und fallen durch den neuen Schnee. Wir albern
und tollen – und vergessen die Anstrengung des Aufstiegs.
Plötzlich erblicken wir einen Vogel: Schwarz aufgeplustert sitzt er auf einem der
alten Grenzpfähle und trotzt dem Sturm. Ein Birkhuhn ist es, das uns nachdenklich beäugt.
Am 10. Dezember 1777, in der Nacht nach seiner ersten Brockenbesteigung, zeichnete
Goethe den Berg, der im Mondlicht lag. Das Bild gehort zu seinen schönsten. Es zeigt im
Vordergrund die Schemen schwarzer Fichten, im Hintergrund erhebt sich als weiße Kuppe der Brocken. Unwirklich leicht scheint der Berg – als ob er mehr ein geistiges Phänomen ist denn ein massiver Brocken. »Aber den Einsamen hüll' in deine Goldwolken ...«

Schutzhütte Wolkenhaus

Der winterliche Aufstieg ging Goethe fortan nicht mehr aus dem Kopf. Er nahm das Naturerlebnis zum Anlass, über eine Farbenlehre nachzudenken, die er viele Jahre später ausarbeitete. Ein zweites Mal bestieg Goethe den Brocken im September 1783. An Charlotte von Stein schrieb er einen letzten Brief, bevor er die Wanderung begann. »Das Wetter hat sich überzogen, vielleicht kommt uns das Morgen früh zu Gute denn wir bleiben diese Nacht oben. Oben auf dem Gipfel auf den alten Klippen will ich mich nach deiner Wohnung umsehn und dir die Gedancken der lebhafftesten Liebe zuschicken. Schon vor mehreren Jahren that ich dasselbe, ... lebe wohl meine beste.«

(c) Jan Akebäck 2011

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