Mittwoch, 18. Januar 2012


Ein Blick auf Akebäck (Gotland). Gefunden auf "Kulturmiljöbild - The Swedish National Heritage Board's photographic database". Von Jan.

Montag, 9. Januar 2012

Gotland. Ingmar Bergman, der italienische Partisan und die schweigenden Bäcker.

Wir lagen in den Sesseln der fast leeren Fähre, hatten ein Shrimpssalat hinter uns und sahen schwedisches Kino. Die Schauspieler rannten zwischen den roten Hütten im fahlen Licht der Sommernacht – und sie stritten. Sie schimpften, weinten und manchmal versöhnten sie sich auch, um dann wieder von vorne anzufangen. Ich musste an Ingmar Bergmans Persona denken, ein intensiver, die Grundbedingungen der Existenz bearbeitender Film, der auf Gotland, auf Farö, gedreht wurde. Mir wurde klar, das Gotland nicht Capri ist, hier wartete kein dolce vita, schon gar nicht im November.
Wir nähern uns der Insel. Kurz vor Mitternacht sehen wir die ersten Lichter der Hansestadt, des Weltkulturerbes. Aber wir waren noch nicht am Ziel. Nachdem wir den im Scheinwerferlicht gleissenden Bauch der Fähre verlassen hatten, tauchten wir ein in die gotländische Dunkelheit, fuhren über leere Landstraßen immer tiefer in die Nacht.
Eine Insel bildet stets eine Welt für sich – mit eigenem Klima, eigener Kultur und andersartigen Menschen. Nach 40 Minuten Fahrtzeit führte uns das Navigationssystem von der Hauptstraße ab, hinein in eine Wacholderwildnis. Kaninchen rannten dutzendfach durch das Scheinwerferlicht und irgendwann erreichten wir eine kleine Siedlung mit fünf, sechs Ferienhäusern. Endlich Zuhause. Ein Zuhause für 14 Tage. Das Kaminholz lag bereit und wir konnten mit gutem Gefühl in die schnell gemachten Betten sinken.
Am nächsten Morgen fuhren wir bei sechs Grad plus in den nächsten Ort. In Ljugarn sollte es einen Bäcker geben. Aber die Tür von Espegards war verschlossen, nur ein Hinweisschild zeigte uns den Weg zur „Bakdörren“. Tatsächlich: Hinter der Hintertür lag die Backstube. Der Bäcker und sein Gehilfe ignorierten uns vollständig. Aber es gab eine Schüssel mit Brötchen, einen Stapel mit Papiertüten und eine Schale für das Geld. Wir bedienten uns – die Schweden lieben Selbstbedienung – verabschiedeten uns mit einem unerwidert bleibenden „hej hej“ und begannen einen sonnige Tag auf neuem Territorium.
Einst war Gotland die reichst Insel der Welt. Im Mittelalter fraßen die Schweine aus silbernen Trögen, so heißt es. Der dänische König Waldemar Atterdag hatte im frühen 14. Jahrhundert so viel Verlockendes von der reichen Insel gehört, dass sein Begehren endlich gestillt werden musste. 1361 hatte er seine Truppen zusammen und fuhr mit einer Armada in das Zentrum der Ostsee.
Die gotländischen Bauern, wohlhabender als alle anderen Bauern der damaligen Welt, konnten den Angreifern wenig entgegen setzen; ein friedlicher Menschenschlag, der vom globalen Handel bis zum Schwarzen Meer lebte. Die Gotländer unterhielten keine Truppen, besaßen keine Geschütze und verschanzten sich hinter keinen Festungen. Die alten heidnischen Fornburgen waren längst verwildert. Als die gierigen Soldaten des dänischen Königs in die alten Wikingerhäfen einfielen, stellten die Bauern schnell ein Heer zusammen. Aber die dänischen Soldaten ermordeten die unerfahrenen, oft noch blutjungen Bauernsoldaten und raubten die Schätze – zumindest die, die sie finden konnten.
Es heißt, dass Atterdags Schiffe schwer beladen mit Gold und Silber zum Rückweg nach Kopenhagen aufbrachen, dann aber in schwerer See untergingen. Immer wieder wurde nach den Schiffen und nach der Ladung gesucht – aber kein goldener Barren und kein einziger silberner Löffel wurden bislang auf dem Grund der Ostsee gefunden.
Nach einigen Tagen hatten wir uns an den Rhythmus der Insel gewöhnt. Im November blieben unsere Nachbarferienhäuser verlassen. Wir lebten alleine im einsamen Wacholderwald. Der Golfplatz war verwaist, die Restaurants geschlossen. Wir unternahmen lange Spaziergänge an der Ostsee. Besuchten Felsformationen, die in der Brandung stehen, so genannte Raukar, und sammelten Fossilien, die hier überall am Strand liegen. In Ljugarn suchten wir das Wohnhaus des Malers Louis Sparre, der hier eine winzige Künstlerkolonie begründet hatte, und erkundeten eine kleine, zugewachsene Fornburg. Ich erzählte meiner Frau, dass wir nach Maulwurfshügeln Ausschau halten sollen. Vielleicht haben die Maulwürfe ein paar Gold- oder Silbermünzen ans Tageslicht gebracht. Vielleicht.
Als der dänische König über die Insel zog, hatten die Bauern ihre Schätze im Boden versenkt. Noch immer werden jedes Jahr Silberschätze auf Gotland gehoben. Meist legen Bauern beim Pflügen unerwartete Münzverstecke frei. Bei dieser Funddichte sind aus gutem Grund Metallsuchgeräte verboten – Gotland soll kein Abenteuerspielplatz für die Schatzsucher der Welt werden.
Der dänische König zog ab, das Land und die Hansestadt waren zerstört, tausende Bauern ermordet und Reichtümer geplündert. Es folgten Jahrhunderte in Armut. Noch heute spürt man eine tiefe Traurigkeit auf der Insel, ein Nachklingen alter, goldener Zeiten. Die Gotländer lebten in den Jahrhunderten nach der Katastrophe von der Landwirtschaft oder vom Kalkbrennen. Mehr schlecht als recht. An der Ostküste erinnern heute verlassene und ruinöse Häfen an den Handel mit gelöschtem Kalk und Kalksteinen.
In einem der aufgelassenen Fabrikgebäude auf der Insel Furillen ist inzwischen ein Designhotel ansässig, das den industriellen Charme ausnutzt und den passenden Namen „Fabriken“ trägt. Es steht inmitten eines alten Steinbruchs und verwöhnt den Besucher mit einer existentiellen Atmosphäre, in denen man Ingmar-Bergman-Filme sehen sollte. Oder auch nicht, wenn man auf Novemberdepressionen verzichten will.
Von einer besonderen und tragischen Geschichte erfahren wir auf dem Kirchhof von Östergarn. Hier wurden die deutschen Soldaten beigesetzt, die vor der Ostküste Gotlands in dem von Russen torpedierten Schlachtschiff Albatross gestorben waren. Das war 1915 gewesen, im Ersten Weltkrieg. Auf einem Grabstein an der Kirche lesen wir Löwenberg, Natschke, Hoppe, Laube, Dittmer, Geyer … und weitere 23 deutsche Namen.
Nach den Kriegen wurde Gotland Zufluchtsort. Für Mitteleuropäer, die den Bombenkrieg erlebt hatten, war Gotland ein abgelegenes Paradies, unberührt von den Schrecken des 20. Jahrunderts. 1948 kam der italienischer Bäcker Luigi Muttoni, der als Partisan in deutschen Gefängnissen gesessen hatte, auf die Insel. Er übernahm Espelgards Café in Ljugarn und bot den Gotländern bis 1979 italienische Backwaren.
Doch mit dem Kalten Krieg wurde auch das Militär ein wichtiger Arbeitgeber auf der Insel. Ganz Nordgotland wurde als Spergebiet erklärt, überall an der Ostküste entstanden Bunker und Abhöranlagen, von denen aus die Ostsee und der Osten beobachtet wurden. Im Norden von Gotland, mitten im ehemaligen Sperrgebiet, lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2007 Ingmar Bergmann. Hier konnte er ungestört von ausländischen Touristen (sie durften Farö nicht betreten) seine Filme realisieren. In einer ehemaligen Scheune hatte er ein privates Kino eingerichtet, einen Vorführraum für großes Kino – nur für ihn.
Nach dem Tod Bergmans hat nun ein norwegischer Mäzen sein Anwesen übernommen. Stipendiaten aus dem Film- und Fernsehbereich wohnen und arbeiten nun jeweils eine Saison in dem Landhaus des Regisseurs. In der benachbarten Schule Farö wird nach den Entwürfen der Stockholmer Architekten Tham & Videgard ein Bergman-Museum eingerichtet. Eine leuchtend rote ausgeschlagene Camera Obscura soll in architektonischen Dimensionen entstehen. In der alten Schule finden aber schon jetzt Ausstellungen und Veranstaltungen zu Ingmar Bergmans Werk statt.

Jan Akebäck