Donnerstag, 15. Dezember 2011

Geerd Koch-Weser in Russland

Geert Koch-Weser
BRIEFE AUS DEM KAUKASUS
(1927)


Erster Brief

Freitag um elf Uhr nachts fuhr mein Zug in Moskau ab. Abends ging ich noch zum Mausoleum Lenins. Es ist von acht bis neun Uhr geöffnet, um der werktätigen Bevölkerung Gelegenheit zu geben, ihren toten Führer zu sehen. Ein langer Menschenzug stand vor dem Grabmal im strömenden Regen. Langsam rückte er vorwärts. Nach zwanzig Minuten war man endlich am Eingang angekommen, stieg die Treppe ins Innere hinunter, um an der einbalsamierten Leiche Lenins vorbei und an der anderen Seite hinauszugehen. Die Menschen schienen leider mehr von Neugier als von Andacht beherrscht zu sein, als sie in das schöne, edel geschnittene Gesicht des Toten blickten.

Auf dem Wege zum Bahnhof brachte mich das Auto noch einmal über den Roten Platz. Noch einmal sah ich die gewaltigen Mauern und Türme dunkel in den dunklen Himmel ragen und hoch darüber die hell erleuchtete rote Fahne flattern. Dann trug mich der Zug weiter nach Süden.

Als ich morgens erwachte, fuhr ich durch weites, flaches Gebiet, in das nur hin und wieder das Wasser kleine Schluchten gerissen hatte. Schilfbestandene Sumpfflächen, Busch und Grasland wechselten miteinander ab, Große Viehherden weideten im Grünen. Schwarze, braune, graue, rote und gescheckte Kühe, dazwischen kleine Trupps von Schafen, und Pferde, die sich mit zusammengekoppelten Vorderbeinen unbeholfen vorwärtsbewegten. Die Hirten lagen irgendwo im Schatten, nur die kleinsten liefen an die Gleise und begrüßten den Zug mit lautem Geschrei. Gemäht werden nur die besten Stellen dieser großen Grasflächen. Vorsichtig führt der Bauer sein kleines Pferd durch das wegelose Gebiet nach Hause; seine Frau blickt auf den Rechen gestützt dem schwankenden, torkelnden Fuder nach.

Dann wieder kommen ausgedehnte bebaute Gebiete, Bauernland. Einzeln oder zu zweien stehen mähende Bauern in der besonnten, goldenen Fläche. In der Ferne zieht wie ein Nebelschleier Regen über die Felder; man sieht ihn und riecht ihn, aber er geht vorbei.

Kleine Dörfer liegen im Gebüsch; die Häuser, die fast nur aus einem Dach bestehen, sehen wie im Grün verstreute Strohhaufen aus. Kein Weg, keine Straße ist sichtbar, Dann wieder größere Dörfer, ein riesenbreiter, dreckiger Weg, links und rechts die Häusergruppen, winzige Lehmwände, große Strohdächer. Auf kleinen Anhöhen hin und wieder eine sechs oder achtflügelige Windmühle oder eine Kirche mit russischem Zwiebelturm.

Gegen Mittag auf einer kleineren Station großes Geschrei, Zusammenlaufen der Reisenden, Beim Näherkommen sehe ich, was los ist, Ein großer Halbkreis von Dorfbewohnern steht an den Schienen, Frauen in bunten Kopftüchern, kleine Mädchen und alte weißbärtige Männer, Jeder hat einen Teller oder ein Gefäß in der Hand; und jeder preist laut an, was er zu verkaufen hat: Obst, Brot, Eier, Gurken, Milch, gebratene Hühner und anderes. Das Schauspiel wiederholt sich noch an vielen Stationen; Wirtschaften gibt es in Rußland nur an den größeren Bahnhöfen,

Kurz vor Charkow, der Hauptstadt der Ukraine, zieht ein Gewitter herauf. Der Himmel wird bis auf einen schmalen gelben Streifen am Horizont ganz dunkel. Nur die vielen Sonnenblumen leuchten noch in der Landschaft. Eine Rindviehherde wird schleunigst ins Dorf getrieben, Bauern kommen im Trab vom Felde herein. Der erste Blitz zuckt quer über den ganzen Himmel.

Bisher hatte ich während der ganzen Reise mein Abteil für mich gehabt; nun in Charkow wurde der Zug voll und ich kam mit einer russischen Dame zusammen. Ich hielt das anfangs für ein Versehen, aber dann merkte ich, daß man in den russischen Schlafwagen keine Herren und Damenabteile unterscheidet; eine komische Sache, die besonders komisch dadurch war, daß wir uns auf keine Weise verständigen konnten.

Es kam der letzte Tag meiner Reise. Wir fuhren durch wohlhabenderes Land; die Dörfer waren stattlicher, die einzelnen Häuser größer, Weit dehnten sich die Stoppelfelder, Hier war die Getreideernte bereits beendet, in der Moskauer Gegend hatte ich die Bauern mähen sehen, bei Riga waren die Felder noch grün und niedrig gewesen. So sah ich eine lange Entwicklungszeit des Getreides in acht Tage zusammengedrängt. Die Getreideschläge waren also kahl, aber große Mais und Sonnenblumenfelder standen noch. Auf einer Seite sahen die Sonnenblumen alle zur Bahn hinüber, auf der anderen Seite kehrten alle ihre Gesichter ab. Ein prachtvoller Anblick sind die riesigen, gelben Flächen.

Plötzlich taucht hinter den Feldern eine schmale, graue Fläche auf. Ist es ein Fluß, ein See? Wir kommen näher, man erkennt Schiffe; es ist das Meer, das Asowsche Meer, Am Rande des niedrigen, grasbewachsenen Steilufers fährt die Bahn der Donmündung entgegen. Große Herden roten Viehes weiden im sumpfigen Gelände.

Der Zug rollt über die Donbrücke; hinter uns liegt Rostow, lang am Flußufer hingestreckt; vor uns Flachland; man weiß nicht, was ist überschwemrnte Weide, was sind Flüsse und Seen? Dann ein Stück Steppe und dann schönstes Kulturland. Trotz der Hitze tragen die Leute auf den Feldern zum Teil große Pelzmützen. Wir sind auf der Landbrücke zwischen Kaspisee und Schwarzem Meer. Es geht weiter nach Süden. Vor einem leuchtenden Sonnenblumenfeld ein prächtiges Bild. zwei riesige Kamele ziehen mit weitausgreifenden Schritten ein kleines Wägelchen, auf dem der Bauer mit seiner Familie zur Erntearbeit fährt. Das Ende der Bahnfahrt naht.

Kawkaskaja. Ein Auto der Konzession wartet am Bahnhof. Die riesenbreiten Straßen der dörflichen Stadt bestehen aus Seen und Morast; es hat viel geregnet. Tief muß das Auto in Wasser und Schlamm hinein, aber fabelhaft zieht der kleine Fordwagen durch. In jedem Dorf schießen von allen Seiten die Dorfköter auf uns zu. Dann Steppe; Wege gibt es nicht; wie es ihm oder seinen Pferden am richtigsten scheint, fährt jeder eine neue Spur in das weite Grasland. Es geht hügelauf, hügelab; die eigenartigste Autofahrt, die ich je gemacht habe. Endlich kommt die Grenze der Konzession. bald auch Gutshof Nummer eins, Herr D., der Leiter der Konzession begrüßt mich an der Tür des Herrenhauses, Die weite Reise ist beendet, die Landarbeit soll beginnen.


Gefunden in: Archicultura, Heft 2


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